Wildberg: Alte Schafscheuer

Im Jahr 1298 wird in Wildberg erstmals die Schäferei erwähnt. Ab dem Jahr 1723 wurde bei den Zunfttreffen im Ort der Schäferlauf durchgeführt. Die Alte Schafscheuer auf dem Schafscheuernberg wurde früher für die Schäferei genutzt, später war sie Heimat des städtischen Bauhofs.

Wir schreiben das Jahr 1787. In Wildberg wird ein Junge geboren. Er bekommt den Namen Jakob Salomo. Einige Jahre später ist aus ihm ein junger, stattlicher Mann geworden. Von Beruf ist er Klosterschäfer. Sein Nachname? Natürlich Bauer.

Hätte die Stadt Wildberg ein Wappentier, wäre es das Schaf. Mit den wolligen Tieren ist hier kein Name so eng verbunden wie der Name Bauer — seit mittlerweile neun Generationen. Der erste, der im Stammbaum auf den letzten Seiten der dicken, schwarz gebundenen Familienbibel vermerkt ist, ist besagter Jakob Salomo Bauer. Heute, 230 Jahre später, führt Karl-Martin Bauer die Familientradition fort. Als Stadtschäfer, wie man ihn in Wildberg nennt. Obwohl die Familie Bauer mit der Schäferei schon lange auf eigenen Beinen steht.

Vor Karl-Martin Bauer war sein Vater Karl der Chef auf dem Schafhof im Kengel. Er hat an seinen Sohn übergeben, ist aber immer noch mit von der Partie. Denn es gibt viel zu tun. „Durch die Technik ist einiges einfacher geworden, aber vieles schnelllebiger und hektischer“, sind sie sich einig. Zusammen sitzen die beiden Männer am Tisch in der Stube und sichten alte Fotos. Schwarz-weiß-Aufnahmen früherer Familienmitglieder, die Eltern, die Großeltern. Bilder aus längst vergangenen Zeiten.

Seit damals Jakob Salomo als Klosterschäfer für die etwa 2000 Tiere verantwortlich war, hat sich viel verändert. Als das Kloster aufgelöst wurde, rückten die kleinen Schafherden der örtlichen Bauern in den Mittelpunkt. Der Gemeindeschäfer, selbstverständlich auch ein Mann aus der Familie Bauer, lebte in einem Torhaus gegenüber der Klosterbrücke und hütete die Tiere im Sommer, im Winter blieben sie im Stall. „Früher war das gesamte Sulzer Eck Weidefläche“, so Karl Bauer. Wo heute alles bewaldet ist und man viele Umwege gehen muss, konnten die Schafe damals ungehindert vorbeiziehen.

Mit den Schafen anderer Leute begnügte sich schließlich Christian Friedrich Bauer nicht mehr. Er war der erste in der Familie mit eigenen Tieren. Um sie unterzubringen, pachtete er die Schafscheuer von der Stadt. So etwa zwischen 1850 und 1900 brachte es die Familie auf stattliche 200 Tiere. Die Großeltern von Karl Bauer — Karl und Johanna — bauten sich ein schönes Haus an der Talstraße, dort wo heute der Aufgang zum Alten- und Pflegeheim am Spießtor ist. „Früher hielt man Schafe nur wegen der Wolle“, erzählt Karl-Martin Bauer. „Damit ließ sich richtig gutes Geld verdienen.“ Und das noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Karl Bauer ergänzt: „Meine Oma hat mir erzählt, dass in den 1920ern und 1930ern immer noch die Kutsche der Calwer Spinnerei regelmäßig vorgefahren ist, um die Wolle abzuholen.“

Die Schafzucht war ein körperlich sehr anstrengender Beruf zu jener Zeit. „Man konnte nicht einfach mit dem Auto von hier nach dort fahren.“ Außerdem gab es noch keine Elektrozäune. Die Herde musste jeden Morgen zum Weideplatz geführt werden und entweder mit einem unter Mühsal mitgeschleppten Zaun umfriedet oder durchgehend bewacht werden. Am Abend ging es zurück zum Stall. „Da musste ich als kleiner Bub immer mithelfen, wenn die Herde zurück gebracht wurde“, blickt Karl Bauer zurück und lacht. „Das hab ich gehasst, wenn man da grad am Fußballspielen war und musste dann weg und mit anpacken.“

Tränken konnte man die Tiere unterwegs nur an seltenen Quellbrunnen auf dem Weg. Heute undenkbar, Wasser wird immer direkt zum Weideplatz gebracht. Das Heu für die Tiere machten die Bauern damals alle noch von Hand, das sah bei den Schäfern nicht anders aus. „Ich erinnere mich noch gut an unseren allerersten Traktor. Den bekamen wir Ende der 1950er Jahre, einen Allgaier Porsche“, so Karl Bauer. Alles nicht so einfach. Aber auf der anderen Seite sehr viel entschleunigter als heute. Man hatte nicht immer die Eile im Nacken, die Zahlen vor Augen, die Effizienz im Kopf. „In der Hinsicht ist die Arbeit heute auch schwierig — nur eben auf andere Art als noch vor ein paar Jahrzehnten“, sagt Karl-Martin Bauer.

1962 baute Karls Vater Gerhard-Ernst Bauer den Aussiedlerhof im Kengel, wo er heute steht. Allerdings war der Schafstall erst noch etwas weiter weg, direkt am Weg bergab in die Lützenschlucht. Von dort „fuhr“ (so nennt man es wirklich, trotz Fußmarsch) Gerhard Ernst mit seinen Tieren Tag für Tag über den Eselssteig ins Tal, vorbei am Bahnhof, ein Stück durchs Städtle, auf der anderen Seite über den Eckweg hoch ans Sulzer Eck und am Abend die umgekehrte Tour wieder zurück. Zu Fuß, ist ja klar. „Wenn motorisiert, dann war mein Vater mit dem Mofa unterwegs, den Hund mit auf dem Tank.“ Der Gedanke lässt Karl und Karl-Martin Bauer schmunzeln. „So war es früher.“ Wenn heute die Schafherde einmal im Jahr durch die Stadt, über die Bundesstraße, auf die andere Talseite geführt wird, dann ist das mit erheblichem Aufwand und vor allem mit viel Absicherung verbunden. Zu Gerhard-Ernst Bauers Zeiten ein alltäglicher Anblick, heute ein außergewöhnliches Spektakel.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts sollte eine weitere Veränderung auf die Schafzüchter zukommen. Die synthetischen Stoffe in der Bekleidungsindustrie verdrängten die Wolle zu einem großen Teil. Und die Konkurrenz aus Australien überschwemmte den restlichen Markt mit sehr viel preiswerteren Angeboten. Für einen Schäfer, der von seiner Wollproduktion leben muss, der Supergau. Also musste die Familie Bauer relativ schnell umdenken und begann, die Tiere umzuzüchten, damit sie mehr Fleisch brachten. Eine sinnvolle Entscheidung, der Fleischverkauf zog nach dem Krieg an. Man konnte es sich wieder leisten.

Mehr Fleisch zum Verkauf anzubieten, bedeutete mehr Schafe zu halten. Was mehr Stallfläche nötig machte. Der Plan, sich zu vergrößern, musste in den 1980ern ziemlich schnell in die Tat umgesetzt werden. Im November 1984 brannte der Stall am Weg zur Lützenschlucht völlig ab. Glücklicherweise kam dabei kein Tier zu Schaden. Aber jetzt war Handeln gefragt. Und schon 1985 stand der neue Stall, direkt am Hof im Kengel.

Auch wenn die Geschäfte sich heute hauptsächlich um das Schaffleisch drehen wird trotzdem noch die Wolle verkauft. Sie muss nun mal in regelmäßigen Abständen geschoren werden. „Macht man es nicht verfilzt das Fell, es wird auch unsauber und schmuddelig.“ Die Schafschur war übrigens früher alleinige Frauensache. Die Damen des Hauses schnappten sich ein Schaf, banden drei Beine zusammen und machten sich ans Werk. Mit der Handschere. Erst als die Elektroscherer ins Spiel kamen, haben das die Männer übernommen. „Aber selbst das ist wirklich noch Knochenarbeit.“

Das zweite Standbein der Schäferei Bauer ist die Landschaftspflege, vor allem für die Stadt. Mit den vierbeinigen Rasenmähern hält sie schwer zugängliche Flächen frei, verrichtet ihren wertvollen Dienst auf Wacholderheiden und in Streuobstwiesen. Dank Elektrozäunen muss auch nicht mehr den ganzen Tag ein Schäfer bei der Herde bleiben. Das wäre wirtschaftlich auch undenkbar. „Die Arbeit auf dem Hof ist ja dann noch nicht gemacht.“ Weil, das sagen Vater und Sohn unisono obwohl sie ihren Beruf lieben: „Das romantische Bild vom gemütlichen Schäferleben, bei strahlendem Sonnenschein an die Schippe gelehnt, das gibt es nicht. Es ist harte Arbeit.“